Kinderkram

Pädagogische Unzulänglichkeiten, genetische Zwangsjacken
- Geständnisse einer "aufgeräumten" Mama.

23:00 Uhr, Wohnzimmer.
Die jüngsten Kinder endlich schlafend. Mama fragt sich nicht zum ersten Mal, wie alle anderen Mamas auf der Welt ihre Sprößlinge schon um 8 Uhr ins Bett verfrachtet haben können. Ob es da pädagogische Tricks gibt? Oder ist es einfach rohe Gewalt, ein Machtwort beispielsweise?
Andere Mamas stolpern nachts nicht über Legosteine und Barbiepferde. In anderen Wohnzimmern sieht es anders aus. Aufgeräumter. Auch tagsüber. Diese Erkenntnis wurde in der Versuchsreihe "Unangekündigte Spontanbesuche bei Freundinnen mit kleinen Kindern" gewonnen. Ursprünglich sollte dabei zwar die Tatsache bewiesen werden, dass es überall so aussieht wie bei uns, aber so gesehen scheiterte dieses Experiment kläglich, entwickelte sich zur Katastrophe für den mütterlichen Selbstwert. Beinahe jedenfalls.

Um 23:00 wird der Zenit des Zweifels überschritten, Mama weißnun: sie will es ja gar nicht anders.
Nur manchmal. Wenn unangemeldeter Besuch kommt und keine Zeit mehr bleibt, schnell mal eben allen Kinder- und sonstigen Kram hinter dem Sofa verschwinden zu lassen, unter den Teppich zu kehren oder in anderen Zimmern unterzubringen, vorübergehend selbstverständlich. Und nur ausnahmsweise. Natürlich.

Neulich räumten die Kinder eigentätig auf. Mama: überrascht ob der unvermuteten Größe des Raumes. Aber dann, trotz fehlender Brille deutlich erkennbar: ein Schatten über der Sofalehne, dort, wo zwischen Sofa und Fenster soviel Platz ist. Dort, wo Mama schon mal ausnahmsweise vorübergehend ...
Ein Schatten von der Form einer Bergspitze. Unverkennbar. Doch Mama merkt offiziell nichts, übersieht auch großzügig alles, was farblich unter dem Sofa hervorleuchtet, ebenfalls nur als Schatten.
Auf der Fensterbank standen früher mal Blumen, ganz früher, als wir noch ein Wohnzimmer hatten. Aber Pflanzen haben Durst, das weißjedes Kind, also wurde ihnen mehrmals täglich Flüssigkeit zugeführt, von handlich kleinen Kinder-Gießkannen. Mit der Zeit standen dort also nur noch diverse nicht-biologische Kleinigkeiten, mit der Maßgabe an den Nachwuchs, nichts zu berühren. Heute ist die 4-Meter-Fensterbank Ausstellungsfläche für Gebautes, und wenn etwas Platz ist, wird das Gemalte dort getrocknet.

Mama lobt und zieht sich zurück in ihr Reich, das Arbeitszimmer, das Büro. Der Schreibtisch: geniales Chaos. Na ja, die Telefonrechnungen der letzten zwei Jahre könnten vielleicht abgeheftet, die Lederreste entfernt werden, die beim Kürzen der Hose abfielen, und die Bücher könnten zurück ins Regal, wenn dort nur Platz wäre. An der Wand gegenüber stand mal ein Sofa. Gedacht zum Sitzen und Ruhen, bis der freie Platz zum Stapeln wichtiger Unterlagen gebraucht wurde. Vorübergehend, versteht sich. Und ausnahmsweise. Vermutlich steht es immer noch dort, sonst wäre der einsame Schuh, der vorwitzig unter den Unterlagen hervorzwinkert, längst plattgedrückt.

So steht Mama eines Abends um 23:00 im ehemaligen Wohnzimmer, wirft einen entschlossenen Panoramablick über das kindliche Stilleben und stutzt. Denn da, mitten im Chaos, steht es, das Wunderwerk der Legotechnik. Der statische Grenzfall, die außer Kraft gesetzte Schwerkraft. Die jüngste Tochter ist ein Leonardo.
Das Kunstwerk: eine Eisenbahnbrücke, aufgrund offensichtlich fehlender Bauteile in einer abschüssigen Talfahrt endend, gestützt von Brückenpfeilern, gegen die der schiefe Turm von Pisa in einem Winkel von mindestens genau 90 Grad zur Erdoberfläche steht. Ein umgehend anberaumter Test beweist: es funktioniert. Die Konstruktion hält, leicht schwebend nachfedernd. Auch im Dauertest.
Da lässt Mama alles liegen wie es liegt, das Genie braucht eben eine kreativ gestaltete Arbeitsumgebung. Und was brauchen wir ein Wohnzimmer, wo hier doch jeder sein Büro hat. Der Fernseher: wird sowieso großenteils vom Nachwuchs genutzt, zum Abspielen lehrreicher Maus- und Löwenzahnfilme. Tabaluga und die Teletubbies flimmern dort allerdings auch ab und an. Ausnahmsweise natürlich. Vorübergehend.

Aber halt, da liegen noch Zettel und Stifte - Hinterlassenschaft der älteren Tochter. Die baut weniger, sie schreibt. Geschichten und Tagebuch. Wie Mama. Und sie liest nachts heimlich, wenn sie nicht schlafen kann. Zweite Klasse. Grundschule.
Ihr Zimmer: vielleicht auch ein ehemaliges Wohnzimmer, wer weiß das noch.
Berge von Unterlagen und Spielzubehör und Haarschmuck, malerisch ausgebreitet und angehäuft. Zwischendrin unvermeidliche Window-Color-Kleckse.
Und ein Trampelpfad zum Bett, säuberlich freigeschaufelt von der Meisterin des Konjunktivs, Bezwingerin der Grammatik, Konstrukteurin unendlich verschachtelter Nebensatz-Bauten. Leserin unzähliger Wendys, Lissys, Witches, Barbies ... und wie die Kiddy-Zeitschriften sonst noch heißen, mit all den verlockenden Abo-Angeboten, deren Bestellung glücklicherweise von einem Erziehungsberechtigten unterschrieben werden muss, der/die das geblendete Kinderauge behutsam auf das Kleingedruckte lenkt ...
Irgendwann wird Mama ein Machtwort sprechen müssen. Nicht heute. Und nicht morgen.

Übermorgen. Ausnahmsweise natürlich. Und selbstverständlich vorübergehend.

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