ICE-Bekanntschaften

Wer viel ICE fährt, kann viel erleben - und trifft häufig auf Sitznachbarn/-nachbarinnen, die sich gern unterhalten möchten ... sehr zum Leidwesen der Autorin, die viel lieber mit einem Buch auf den Knien und einem Kaffee vor der Nase ...

Nie wieder lächle ich Sitznachbarinnen freundlich an, ohne sie mir vorher genauestens anzusehen. Nie wieder, vor allem keine kurzhaarigen Roten und langhaarigen Blonden. Vorsicht bei vielen Falten (Scheidung), dicken Augen (Alkohol) und feststellbarer Diskrepanz zwischen Schmuck und Kleidung (hat schon bessere Zeiten gesehen). Und ganz, ganz viel Zurückhaltung bei Handtaschen im Kleinformat (keine Reiselektüre) ...
...

Die kleine Rothaarige lächelt freundlich zurück: "Ach wie schön, mal keinen Muffel neben sich zu haben, die gucken immer nur ganz ablehnend und sagen keinen Ton ..."
Ein kurzer Blick auf die Reservierungs-Leiste: Berlin-Hagen. Aber vielleicht ist sie ja nicht die Reservierung ...
Mit dem nächsten Satz schwindet die Hoffnung: "Ich reserviere immer ..."
Keine Ausweichmöglichkeit, vollbesetzter ICE (klar, Pfingsten!).

Mein aufgeklapptes Buch völlig ignorierend, umreißt sie erst mal in groben Zügen ihre Lebensgeschichte - erste Eheschließung, 2 Kinder, sein Suff, Scheidung, zweite Eheschließung, mit einem Christen, da geht man auf Nummer Sicher, war dann doch nicht so, Macho, Scheidung.

Sie arbeitet aktiv in der Kirchengemeinde (woauchimmer in Berlin) und singt im Kirchenchor, einem, der sich zur Aufgabe gemacht hat, alte Menschen mit nicht nur Kirchenliedern zu erfreuen, auch mit Volksmusik - woraufhin sie das eine und andere Lied intoniert. Nein, sie braucht kein Mikro für's Solo, heißt Beate und erfreut jetzt mich ... versetzt mit Histörchen aus Altenheimen.
Am meisten erlebt man auf Stationen, wo nur Koma-Patienten liegen, die sich beim Musik-Lauschen in den Betten wälzen ... und sie hatte mal eine Hauswartstelle bei einem Miethai, da haben sie in einem seiner anderen Häuser einen Mann erst gefunden, als der schon 5 Jahre lang tot in der Wohnung gelegen hatte, mumifiziert (?????), und es stank nicht, weil das Fenster offen war; ja, es ist schon ganz gut, wenn man nicht auf der Wetterseite wohnt, das hatte sie mal, das braucht sie nicht mehr, das war mit ihrem ersten Mann für 2.500,- DM kalt, bevor sie arbeitslos wurde. Aber jetzt hat sie eine gute Stelle in der Friedhofsverwaltung der städtischen Friedhöfe, 35 Quadratmeter für 340,- warm, alles natürlich in woauchimmer in Berlin.

Erste unmissverständliche Lacher in der Sitzreihe hinter uns und mitleidige Blicke von meinem Schräg-Gegenüber in der übernächsten Reihe. Ich flüchte mit dem Hinweis auf eine akute Harnwegsinfektion auf die Toilette. Wie lange darf man dort bleiben, ohne dass der Schaffner die Tür aufbricht? Ich weiß es nicht und setze mich wieder.
Sie hat meine Abwesenheit sinnvoll genutzt und diverse Kinderfotos herausgekramt. Die Kinder, ein Junge, ein Mädchen, sind mittlerweile 22 und 23 Jahre alt - sie hat 'ne Menge Fotos dabei, aber keines, wo die Kinder noch im Bauch sind, leider, sie glaubt, das gab es damals noch nicht. Ja, wie die Jahre vergehen - heute sind die gynäkologischen Praxen ja w e s e n t l i c h besser ausgestattet ... sie unterbricht ihren Redefluss, ich schrecke hoch, habe ich etwas gesagt? Oder laut gedacht? Habe ich überhaupt schon etwas gesagt oder nur genickt?

Ich habe den Faden verloren, aber das macht nichts, nach den Gynäkologen kommen die Pathologen, mit denen hat man in der Friedhofsverwaltung nämlich häufiger zu tun. Sie machen 3 Kreuze auf Särge, die nicht geöffnet werden dürfen. Das ist Gesetz, und Gesetze haben ihren Grund. Manchmal schaffen es unverständige Angehörigen trotzdem, eine Erlaubnis für die Öffnung solcher Särge zu erhalten, was aber meistens nicht gut für die Angehörigen ist, da hat schon so mancher solche seinen eigenen Herzinfarkt praktischerweise auf den Friedhof verlegt.

Ja, nirgendwo erlebt man mehr als auf Friedhöfen. Da sind nicht nur die Männer, die unterm Mantel nicht mehr als ihr gutes Stück tragen, nein, da läuft auch schon mal ein Mörder 'rum oder ein Sektierer. Die Sektierer sind die schlimmsten Übeltäter, sie holen Leichen aus dem Leichenhaus und setzen sie vor irgendwelchen Kneipen ab oder gar vor der Friedhofskapelle, und übrigens hat sie auf der Kellertreppe ihres jetzigen Wohnhauses eine blutige Spritze gefunden, das sind die asozialen Nachbarn, er säuft, sie schafft an, das weiß doch jeder. Beate hat ja zum Glück ihren Job und ist nur abends und nachts zu Hause. Dann allerdings macht ihr der Nachbar unter ihr Probleme, der lädt nämlich immer seine Saufkumpels ein, was zu fortgeschrittener Stunde in exzessiven Vorträgen anzüglichen Liedgutes gipfelt. Aber Beate ist nicht dumm, dann stellt sie einfach ihr Radio ins Doppelfenster, Klassik in voller Lautstärke.
Singt sie dazu? Das frage ich mich und denke an Verdis lange Tode.

Was ich denn beruflich mache, will sie wissen.
Schriftstellerin, sage ich mit drohendem Unterton. Nein, welch interessanter Beruf - Romane? Nein, sage ich, Geschichten aus dem täglichen Leben ... Sie unterbricht mich aufgeregt mit der Bemerkung, da könne sie mir ein paar interessante Sachen erzählen, also was man zum Beispiel allein im ICE so alles erlebe ... offenes Gelächter in der Reihe vor uns, und ich muss wieder auf's Klo, ganz dringend, meine Harnwegsinfektion. Wir haben Hannover hinter uns gelassen, noch eine Stunde bis zur Ankunft in Bielefeld.

Bei meiner Rückkehr winkt sie schon, sie hat mal eben ihre Freundin angerufen, die kennt sich aus mit Blasenentzündungen und hat ihr ein hervorragendes Mittel empfohlen: Zystinol, oder so ähnlich, aber sie weiß nicht, ob es rezeptfrei ist. Ich solle auf alle Fälle sofort zum Arzt gehen. Sie ist rührend um mich besorgt, ich kann ihr nicht böse sein und nicke dankbar. Falls ich jemals einen Harnwegsinfekt haben sollte - jetzt weiß ich zumindest, was dann hilft.
...
Sie redet ohne Punkt und Komma, redet immer schneller, denn sie weiß: in Bielefeld steige ich aus, endgültig aus.
Ich zücke meine letzte Waffe: eine Tüte M&Ms (mit vollem Mund spricht man nicht), sie bedient sich und redet munter weiter.

Sie berichtet von der ewigen Blumenklauerei (sogar Plastikblumen !!!) auf den städtischen Friedhöfen, von alten Damen, die Blumen auf sonnenbeschienenen Gräbern zertrampeln, weil ihr eigener Verstorbener im Schatten liegen muss; ich erfahre, dass das Wachpersonal auf dem Friedhof nicht berechtigt ist Personalia zu kontrollieren und dass diese Tatsache weidlich ausgenutzt wird. Nächtliche Saufgelage auf städtischen Friedhöfen sind die Regel, und so mancher unschuldige Grab-Besucher wurde vom lockeren Grabstein erschlagen, was die jeweiligen Todesfälle verkompliziert, weil dann erstens nicht klar ist, wer für die Lockerheit verantwortlich ist und zweitens, wer es hätte bemerken müssen.

Ja, ihre Arbeit ist nicht langweilig, und es passiert auch schon mal, dass sich ein Mann auf dem Damenklo einschließt, aber da holt sie immer gleich die Polizei, weil die alle verrückt sind.

Meine Augen hängen an der Uhr: 19.45. Um 19.52 werde ich in Bielefeld aussteigen, ich habe mich noch nie so sehr auf's Aussteigen gefreut, nicht mal damals, als die Frau neben mir saß, deren Sohn schwerer Epileptiker ist und in Bethel (Bielefeld) betreut wohnt, sie ab und zu mal in Berlin besucht, aber dann hat sie keine Sekunde Ruhe, weil sie immer glaubt, es sei etwas passiert, wenn er sich auch nur eine Sekunde verspätet, sie hat ein Haus im Osten gekauft, zusammen mit Bekannten, aber mittlerweile ist das zu einsam und sie nach Berlin zurückgekehrt, wo sie wohnte, bevor ihr Mann mit einer Jüngeren ...

Übrigens wird Beate in Hagen von einem Mitglied der befreundeten Kirchengemeinde abgeholt... kann es vielleicht sein, dass die beiden Kirchengemeinden Beate immer hin- und herschicken, weil das keiner lange aushält?

Die Durchsage kommt, sie verabschiedet mich: "Vielleicht besuchen Sie mich mal auf dem Friedhof in woauchimmer in Berlin ..."

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