Die Gams

Ein Beitrag zur neuen, deutschen Rechtschreibung, Ergebnis einer Duden-durchblätterten Nacht, geschrieben und auf Seidentuch verewigt (genannt: das "Mogeltuch"), um den Töchtern in der Schule die Umsetzung der neuen Schreibweisen zu erleichtern.

Es war einmal ein Stuckateur, der ein Teeei besaß. Jeden Morgen nahm er sein Flanellläppchen zur Hand und schnäuzte sich, denn an Stelle des wohlverdienten Schlafes überkam ihn jede Nacht aufs Neue eine unermessliche Traurigkeit. Jedes Jahr, des Langen und Breiten er denken konnte, war er mit dem Floß den Fluss hinunter gefahren bis zur Flusssenke und hatte dort GEMSEN dabei beobachtet, wie sie Rad fuhren.
Jeder behämmerte Fußballlehrer weiß, dass GEMSEN sich niemals in Flusssenken aufhalten, aber der Stuckateur sprach Englisch und saß schon deshalb nicht im Nassen sondern auf dem Trockenen.
Da kam ein Deutschlehrer vorbei, sah den Stuckateur sich schnäuzen und platzierte sich behände neben das Teeei.
"Was macht dich denn so unermesslich traurig?", sprach er zum Stuckateur, der auf dem Trockenen saß und das nasse Flanellläppchen fest hielt. "Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken - Maß halten, nichts außer Acht lassen und außer Sieben nichts nummerieren, dann wirst du dein Problem lösen." In Bezug auf den Abschied schenkte er ihm das weise Buch und tappte im Dunkeln fort.

Der Stuckateur las das weise Buch Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Spalte für Spalte, Seite für Seite. "Ja, das ist es,", dachte er, "Orthografie mit Fantasie!", und vergaß darüber sogar, sich mit seinem Flanellläppchen zu schnäuzen.
Plötzlich löste sich eine letzte Träne aus seinem rechten Auge und fiel unvermittelt auf den Buchstaben G.
Der Stuckateur erstarrte und wollte gerade die Träne mit seinem Flanellläppchen fortwischen, als er genauer hinsah. Seine Anspannung steigerte sich ins Unermessliche, denn dort, wo sich langsam der Tränenfleck ausbreitete, dort fand er die Lösung seines Problems! Niemand, nicht einmal ein Fußballlehrer o-
der eine Schneeeule hätte ihm ein X für ein U vormachen können; aber das weise Buch machte ihm nun ein A für ein E vor. Und nun wusste auch er, was jeder Fußballlehrer weiß: GEMSEN halten sich nicht in Flusssenken auf!

Es sind die GÄmsen !

Überschwänglich ließ er das Flanellläppchen fallen, stolperte noch schnell über das Teeei und rannte los, rannte zum Floß auf dem Fluss, der zur Flusssenke floss. Und als er in der Flusssenke angekommen war und im Nassen stand und nicht mehr auf dem Trockenen saß, da sah er sie, die Gämsen, er sah sie Rad fahren!
"Wie gut, dass der Deutschlehrer mir das weise Buch geschenkt hat, so dass ich nun Deutsch lesen und schreiben kann, denn Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken. Ohne das weise Buch wüsste ich bis heute nicht, warum GEMSEN nicht in Flusssenken Rad fahren!"
So sprach der Stuckateur und ging zufrieden nach Hause. In dieser Nacht konnte er endlich wieder wohlverdient schlafen.
Am nächsten Morgen hob er das Flanellläppchen auf, das auf den Teeeiinhalt gefallen war. Er setzte sich mit einem Bierkrug vor sein Teeei und hielt fortan Maß, ließ nichts außer Acht und nummerierte nichts außer Sieben. Und wenn ihn der Deutschlehrer nicht verbläut hat, dann nummeriert er noch heute.

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