Bevor das erste Lichtlein endgültig brennt, gilt es mannigfache Schwierigkeiten zu bewältigen - von der einfachen Radarkontrolle bis hin zum Ladenschluß ...
Freitag, 30. November, 16:00 Ortszeit in der Küche.
Ich habe etwas vergessen, ich weiß es genau, etwas Wichtiges.
Ein Blick auf den Familienkalender an der Wand, der mir mitteilt, wer
wann wo einen Termin hat oder Geburtstag, hilft nicht weiter.
Ich blättere um, vielleicht ist es ja etwas in der Dezemberzukunft,
woran heute schon zu denken wäre, entdecke aber auf den ersten
Blick nichts. Auch nicht auf den zweiten. Der dritte sagt, dass übermorgen
der erste Advent ist. Dunkel steigt ein Hauch von Ahnung hoch, dann
die Gewissheit: der Adventskranz muß noch besorgt werden! Aber
das geht ja morgen auch noch, dann kostet er nur noch die Häfte.
Wie jedes Jahr.
Beruhigt lasse ich das Novemberblatt wieder runterfallen, drehe mich
um ... da schlägt es ein. Wie ein Blitz. Nimmt mir den Atem, treibt
mir den Schweiß auf die Stirn. Advent! 1. Dezember! Adventskalender!
Erinnerung an einen Tag Anfang September. Im Aldi. Draußen brütende Hitze, drinnen erholsame Klima-Kühlung. Kopfschütteln über die Adventskalender, die jedes Jahr früher angeboten werden. Ich kaufe dieselben auch immer frühzeitig, aber an dem Tag habe ich die Kühltasche vergessen, und bevor alles schmilzt, kaufe ich nächste Woche ein, wenn es regnet und kühler ist, wie die Wettervorhersage glaubwürdig versichert.
Auch am letzten November gibt es im Aldi immer noch Adventskalender, das weiß ich genau, bedaure ich doch jedes Jahr die Rabeneltern, die nicht mal frühzeitig an den Erwerb dieses so wichtigen Utensils kindlicher Weihnachtsvorfreude denken können! Unauffällig schleiche ich zu der Stelle, wo sonst immer das weihnachtliche Zubehör liegt, damit auch keiner merkt, daß ich eine Rabenmutter bin. Die Hand greift ins Leere - ich sehe genauer hin - gähnende Leere! Es gibt nicht mal mehr Marzipankugeln, ohne die Mama nur schlecht Weihnachten feiern kann! Schnell raus aus dem Laden und rein in den erstbesten nächsten Supermarkt, aber auch dort: nichts. Wie auch in allen Geschäften, die danach aufgesucht werden.
Diese wunderbaren Kalender mit den Weihnachtsmännern, Engeln,
Schlitten, viel Schnee drauf, und 24 Schokoladenstückchen drin,
preiswert für ein paar Mark zu erstehen - sie sind ausverkauft.
Beinahe hätte ich einen gehabt, nur beinahe (außerdem brauche
ich zwei), denn eben hat die Verkäuferin den leergefegten Ständer
weggeräumt, wie sie leutselig berichtet, ein Schlag ins Gesicht
einer verzweifelten Mama.
Zielloses Wühlen in den Ständern mit Sonderangeboten vom Plantschbecken
bis zum Reiseset - vielleicht hat jemand den bereits mitgenommenen Kalender
ja nicht haben wollen und ihn heimlich unten im Wühltisch vergraben,
was habe ich nicht alles schon dort gefunden ... aber bis auf ein Päckchen
geräucherte Forellen, die eigentlich ins Kühlregal gehören,
finde ich nichts, was nicht auf diesem Tisch befindlich sein sollte,
schon gar keinen Adventskalender.
Eiligen Schrittes dränge ich an der langen Schlange vor der Kasse
entlang, die leeren Hände weit in die Höhe gereckt, dass man
erkennt: da will eine nur raus und sich nicht etwa vordrängeln!
Die Schlange beäugt mich mißtrauisch und meine Riesentasche,
ob ich nicht etwas darin verborgen habe, was, am Band angelangt, plötzlich
hervorgezaubert und der Kassiererin präsentiert werden könnte...
Draußen muss ich erst mal verschnaufen, fühle mich wie Sindbad
nach gerade bestandenem Abenteuer, als ob sich die vielen Augen der
Schlange selbst jetzt noch in den Rücken bohrten ... Ich gebe auf,
weiß einfach keinen Ort mehr, wo man noch fündig werden könnte.
Bei Tchibo vielleicht? Gar nicht abwegig, wenn man bedenkt, dass es
an der Tankstelle ja auch Marmelade gibt, und wer kauft beim Kaffeeröster
noch Kaffee?
Also erst mal zur Tankstelle, weil ich tanken muss. Vor der Kasse natürlich
eine Schlange, also streife ich ziellos umher, nehme das Regal mit den
Süßigkeiten genau unter die Lupe, denn ich habe eine Idee.
Wie gut, dass ich nichts, aber auch gar nicht wegwerfen kann! Nur dieser
regen Sammeltätigkeit (wer weiß, wozu man das noch mal brauchen
kann...) verdanke ich nämlich den umfangreichen Bestand an bereits
geleerten Adventskalendern aus den vergangenen Jahren! Die ließen
sich doch mit Schoko-Bedarf aus dem Tankstellenregal füllen! Die
Perforation an den 24 Türchen ist zwar ruiniert, aber man könnte
alles ja auch mit kleinen Bändchen verschließen, oder ähnlich...
Hauptsache bleibt die Schokolade darin!
Mit dieser Idee fällt der Riesenstein von meiner Seele, sie richtet mich auf, ich recke mich, ca. zwanzig Tüten Füllmaterial in der Hand, fast ein Vermögen, und traue meinen Augen nicht. Direkt vor mir ein Päckchen mit, ich zähle durch, 8 Adventskalendern! Schnell die 20 Tüten zu der Majonaise gegenüber gepackt und zwei Kalender gegriffen, bevor sie mir einer wegschnappt. Die Trophäe in der Hand zur Kasse geeilt, da stehen zwei Blondinen vor mir, die ihre Taschen nach Barem durchkramen - ich habe keine Vorurteile, warte geduldig, bis alles zusammengekramt ist, da höre ich die eine zur anderen sagen, dass es jetzt aber Zeit sei in die Stadt zu fahren, zwecks Besorgung von Adventskalendern...
Einen Atemzug lang muß ich gegen das gemeine Tier in mir kämpfen, das mir zuflüstert: lass sie doch fahren, lass sie leiden, sollen sie doch die vielen Augen der Kassenschlangen kennenlernen - aber dann siegt die Loyalität von Mutter zu Mutter, und ich teile mit, dass es zwei Regale weiter die allerletzten Schokokalender gibt. Ungläubig schauen sie erst mich an, dann sich, dann wieder mich - sie trauen mir nicht über den Weg, die Loyalität schwindet, ich bin stark versucht, mich der gemeinen Lüge zu bezichtigen und die beiden ihrem Schicksal zu überlassen. Aber dann stürzen sie eilig los, ergattern auch noch zwei Kalender, Tränen der Dankbarkeit in den Augen, immer noch nicht ganz überzeugt, aber sicher ist sicher, denken sie wohl.
Ich zahle und steige, äußerst zufrieden ob der guten Tat,
in meinen Silberpfeil, fahre (punktgenau 50 km/h, weil die Fotos immer
wenig schmeichelnd sind) nach Hause, bin fast da - da schlägt der
Blitz wieder ein.
Schokokalender sind ja nur die halbe Wahrheit! Da gibt es nämlich
noch andere Kalender, solche, die mit kleinen Geschenken, liebevoll
verpackt, das Warten auf Christkind und Weihnachtsmann verkürzen!
Ein Blick auf die Uhr: noch eine dreiviertel Stunde, dann schließt
der Spielwarenladen. Schnell gewendet und zurück in die Stadt,
nicht mehr mit 50 km/h, weil dafür jetzt keine Zeit mehr ist und
vorhin nirgendwo das Vorhandensein irgendeiner Sorte Radar festgestellt
werden konnte. Vorhin.Vor 10 Minuten.
Es blitzt bei 61 km/h, das kostet 50 Mark und einen flehentlichen Blick,
mich bitte schnell weiterfahren zu lassen, wegen der Adventskalender.
Da wählte ich wohl das falsche Wort, denn schnell soll ich ja nicht
sein, wenn es nicht wieder 50 Mark kosten soll, und ich als Mutter sollte
mir meiner Verantwortung in geschlossenen Ortschaften eigentlich bewusst
sein, sagt die freundliche Mütze. Mit heimlichem Blick auf die
Uhr nicke ich so nachdrücklich wie schicksalsergeben, er hat ja
Recht, ich sehe alles ein und streue Asche auf mein Haupt. Na denn:
einen schönen ersten Advent, sagt er.
Bis zur nächsten Kurve fahre ich 50, dann ab die Post, noch eine
halbe Stunde bis High Noon.
Völlig abhehetzt, den letzten Parkplatz vor dem Spielwarengeschäft
hat mir eine andere eilige Mutter weggenommen, schnell ein paar Kleinigkeiten
für ein paar mehr Mark gekauft, darauf kommt es jetzt auch nicht
mehr an, Hauptsache, ich habe überhaupt etwas zu verpacken. Ich
brauche 48 Teile, dafür reicht die verbleibende Öffnungszeit
bei weitem nicht aus, bringe es auf immerhin 26 Treffer, was in Schulnoten
wahrscheinlich ein gesundes "befriedigend" wäre, wenn
überhaupt. An der Kasse noch ein kleines Drama, weil ich hätte
sagen müssen, daß ich mit EC-Karte bezahlen will, bevor die
26 Teile gebongt wurden. Also alles retour, und nochmaliges Bongen.
Langsam zurück zum Silberpfeil, damit ich nicht nochmal hin- und
herfahren muss, falls es zum drittenmal einschlägt. Aber selbst
wenn, was würde es nützen? Die Geschäfte sind zu, und
jeder Blitzeinschlag hätte nur noch Erkenntniswert.
Die Einkaufszeit ist abgelaufen, die Parkuhr auch. Mama pflückt
den Strafzettel von der Windschutzscheibe, der normalerweise 10 Mark
kostet, falls die Preise zwischenzeitlich nicht gestiegen sind.
Zu Hause werde ich von hungrigen Kindermägen empfangen, und auch mein Gatte knurrt, weil ich drei Stunden für die Beschaffung von zwei popeligen Adventskalendern brauchte. Ich sage erst mal nichts, weil ich sowieso etwas atemlos bin, stopfe die Mäuler mit Eßbarem und verfrachte die Kinder früher als sonst ins Bett mit dem Argument, dass man gut ausgeschlafen sein muss, wenn morgen der Adventskalender beginnt.
Es funktioniert erst kurz vor Mitternacht, weil nichts aufregender
ist als die Vorfreude. Als sie endlich schlafen, schlägt der Blitz
noch einmal zu. Weil ich immer Geschenkpapier-Vorrat für Jahre
kaufe. Weil ich letztes Jahr hätte kaufen müssen, spätestens
aber jetzt. Heute. Zum Glück bevorratet Mama alles, von dem man
nicht weiß, wann man es mal braucht, also auch das Geschenkpapier
der vergangenen Jahre. Das lagert, ich weiß es, auf dem Dachboden,
den wir seit Jahren mit elektrischem Licht bestücken wollen, was
wir bis heute nicht schafften. Nach etwas Suchen findet sich eine Taschenlampe
mit leeren Batterien, für die ich neulich Ersatz besorgte, den
ich gut weglegte, damit er sich schnell wiederfindet. Eine halbe Stunde
später gucke ich in die Schublade, wo in großen Buchstaben
"Batterien" draufsteht, bringe die Lampe zum Leuchten, steige
ins Dachgebälk, finde das Geschenkpapier sofort (ein Wunder ist
geschehen?) und packe ein. 26 Kleinteile und 22 Dummys. Um 5 Uhr morgens
ist alles fertig - ich auch, weil das Verpackte doch irgendwo angeheftet
werden muß, z.B. an den zwei Wandbehängen, die, ich glaube
mich zu erinnern, letztes Jahr ebenfalls auf dem Dachboden verstaut
wurden.
Nach relativ kurzer Suche tauchen sie im Keller auf, werden umgehend
bestückt und aufgehängt, es ist halb sieben.
Aufstehzeit für ungeduldige Kinder, die sich auf alles stürzen, was mit der Ziffer "1" gekennzeichnet ist.
Angesichts der leuchtenden Augen verfliegt Mamas Müdigkeit, sie erhitzt Kakao und braut einen starken Kaffee, weil der adventliche Besorgungskatalog noch einen Adventskranz enthält, der, wie sich herausstellt, dieses Jahr am allerletzten, voradventlichen Tag leider auch vergriffen ist. Also basteln wir ihn selbst, ein Riesenvergnügen, auch für die kommenden Jahre.
Und schon ist Sonntag, die erste Kerze brennt. Hauptsache. Die Weihnachtsdeckchen sind noch nicht dekoriert, weil sie zum Trocknen im Keller hängen, die Lichterkette im Korkenzieherhaselnußstrauchbaumzweig verteilt ihr Licht auf die Ostereier, die durch Sterne und Monde zu ersetzen ich in der Hektik vergaß. Zum Glück haben wir eine Schublade, wo "Weihnachten" draufsteht, packen die Eier in die Aufschrift "Ostern" und verspeisen die Lebkuchenbestände des vergangenen Jahres.
Ganz zum Schluß geht Mama in die Küche und schreibt für den 10. Dezember in den Kalender: Dummys ersetzen! Damit sie nicht vergisst Ersatz zu besorgen, wie beinahe im Vorjahr. Glücklicherweise gibt es ja den Ort, wo auch sonst alles lagert, von dem keiner weiß, wann man es mal braucht...